Rosi trat jetzt auch an den Baum heran, um ihn mit den glaenzenden
Tannenzapfen zu schmuecken. Sie sah heute ganz anders aus als sonst. Ihre
sonst so gleichmaessigen Zuege trugen den Ausdruck froher Erwartung, ihre
milden Augen strahlten und rosig waren ihre Wangen angehaucht.
"O du selige, o du froehliche Weihnachtszeit," summte sie mit ihrer
frischen Stimme leise vor sich hin, und Fraeulein Guessow rief ihr zu:
"Singe nur laut heraus, Rosi, das bringt uns bei unsrer Arbeit so recht in
die echte Weihnachtsstimmung."
"Wir wollen alle singen!" riefen Grete und Annemie, "bitte, Fraeulein
Guessow!"
"Meinetwegen, aber huebsch gedaempft, Kinder, damit die Kleinen nicht davon
erwachen."
Und nun erklang aus den jugendlichen Kehlen das schoene Lied vierstimmig. -
- Die junge Lehrerin senkte den Kopf herab, - der Gesang stimmte sie
traurig. Ihre Kindheit - ihre erste Jugendzeit stand mit einemmal lebendig
vor ihrer Seele. - - Was hatte sie gehofft - - und wie hatten sich ihre
Traeume erfuellt! - - Durch ihre eigne Schuld! -
Mitten im Gesange wurde ploetzlich die Thuer geoeffnet und Fraeulein Raimar,
begleitet von Herrn Doktor Althoff, trat herein. Sie hatten soeben eine
notwendige Besprechung in der Vorsteherin Zimmer beendet.
Das war eine Ueberraschung, die niemand vermutet hatte. Der Gesang
verstummte und die Maedchen wurden mehr oder weniger verlegen, als der
Gegenstand ihrer stillen Verehrung so unerwartet vor ihnen stand. Flora
erroetete bis an die Haarwurzeln.
"Nun, warum singt ihr nicht weiter, Kinder?" fragte die Vorsteherin. "Lasst
euch nicht stoeren durch unsre Gegenwart."
Aber es wollte nicht wieder so recht in Zug kommen. Orla setzte zwar ein,
aber falsch, sie war sehr wenig musikalisch. - Annemie musste ueber den
Misston lachen, und da Lachen ansteckt, - stimmten die uebrigen ein.
[Illustration]
"Was machen Sie denn, Miss Nellie?" fragte Doktor Althoff und trat auf sie
zu. "Warum verstecken Sie Ihre Haende so aengstlich?"
Er laechelte sie an. Flora warf einen verstohlenen Blick auf ihn, und bevor
sie sich zur Ruhe legte, schrieb sie in ihr Tagebuch:
"Er hat sie angelaechelt! Beneidenswerte Nellie! - Bezaubernd - hinreissend
- sah er in diesem Augenblicke aus! Die geistvollen, dunklen Augen
spruehten Feuer - um die schmalen Lippen zuckte es sarkastisch - wunderbare
Perlenzaehne schimmerten durch den dunkelblonden Bart. - Aber Nellie ist
kokett! Leider! - Dieser Augenaufschlag!" -
"O,"
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