s aeussern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des
Marmontels. "Soliman der Zweite", sagen sie, "war einer von den groessten
Fuersten seines Jahrhunderts; die Tuerken haben keinen Kaiser, dessen
Andenken ihnen teurer waere als dieses Solimans; seine Siege, seine
Talente und Tugenden machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswuerdig,
ueber die er siegte: aber welche kleine, jaemmerliche Rolle laesst ihn
Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagener
ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kuehnsten,
schwaerzesten Streiche faehig war, die den Sultan durch ihre Raenke und
falsche Zaertlichkeit so weit zu bringen wusste, dass er wider sein eigenes
Blut wuetete, dass er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen
Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine
naerrische Kokette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf
voller Wind, doch das Herz mehr gut als boese. Sind dergleichen
Verkleidungen", fragen sie, "wohl erlaubt? Darf ein Poet oder ein
Erzaehler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet, diese
Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn
er Fakta nach seinem Gutduenken veraendern darf, darf er auch eine Lucretia
verbuhlt und einen Sokrates galant schildern?"
Das heisst einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich moechte die
Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht uebernehmen; ich habe mich
vielmehr schon dahin geaeussert,[2] dass die Charaktere dem Dichter weit
heiliger sein muessen, als die Fakta. Einmal, weil, wenn jene genau
beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von
selbst nicht viel anders ausfallen koennen; da hingegen allerlei Faktum
sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten laesst. Zweitens, weil
das Lehrreiche nicht in den blossen Faktis, sondern in der Erkenntnis
bestehet, dass diese Charaktere unter diesen Umstaenden solche Fakta
hervorzubringen pflegen und hervorbringen muessen. Gleichwohl hat es
Marmontel gerade umgekehrt. Dass es einmal in dem Seraglio eine europaeische
Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmaessigen Gemahlin des Kaisers zu
machen gewusst: das ist das Faktum. Die Charaktere dieser Sklavin und
dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Faktum wirklich
geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich
werden koennen, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche
von diesen Arten er
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