Kenner; nicht jeder, der die Schoenheiten eines
Stuecks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den
Wert aller andern schaetzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen
einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre
Geschmack ist der allgemeine, der sich ueber Schoenheiten von jeder Art
verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuegen und Entzuecken erwartet, als
sie nach ihrer Art gewaehren kann.
Der Stufen sind viel, die eine werdende Buehne bis zum Gipfel der
Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Buehne ist von
dieser Hoehe, natuerlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fuerchte
sehr, dass die deutsche mehr dieses als jenes ist.
Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht
wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste,
der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer
geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.
Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzufuehrenden
Stuecken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des
Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stuecke ist
keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer
Meisterstuecke aufgefuehret werden sollten, so sieht man wohl, woran die
Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmaessige fuer nichts mehr
ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens
daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm
Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum
ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmaessige Stuecke muessen auch
schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzuegliche Rollen
haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Staerke zeigen kann.
So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text
dazu elend ist.
Die groesste Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn
er in jedem Falle des Vergnuegens und Missvergnuegens unfehlbar zu
unterscheiden weiss, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters,
oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der
andere versehen hat, heisst beide verderben. Jenem wird der Mut benommen,
und dieser wird sicher gemacht.
Besonders darf es der Schauspieler verlangen, dass man hierin die groesste
Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichter
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